Seit 1999 schreibt Hans-Martin Gäng das Tagebuch über die Heidelberger Wanderfalken. In über 5000 Einträgen können Sie nachlesen, was seit 1999 alles passiert ist. Dort finden Sie auch viele Informationen zur Biologie des Wanderfalken und zum Verlauf der Brut und Aufzucht des Nachwuchses.
Seit 1999 schreibt Hans-Martin Gäng das Tagebuch über die Heidelberger Wanderfalken. In über 5000 Einträgen können Sie nachlesen, was seit 1999 alles passiert ist. Dort finden Sie auch viele Informationen zur Biologie des Wanderfalken und zum Verlauf der Brut und Aufzucht des Nachwuchses.
Lesefrucht zum Schmunzeln
aus DIE ZEIT, ZEIT-Magazin Nr.18 vom 27.April 2023, S.5

Spätes Frühstück
Danke, M.H.!

Kein Beutevogel am Himmel zu sehen
Da wird das QUARTETT wohl mit Nahrung aus einem Depot versorgt.
Danke, M.H.!


Die Küken sind nicht mehr weiß wie Schnee
Das ist nicht der Staub, der sich – bei jedem Besuch dort oben staune ich darüber, wieviel der Neckarwind dort hinein bläst – der das Flaumgefieder allmählich einfärbt. Das Federkleid der Kleinen wird sich nun dramatisch verändern. Was wir nun sehen nennen die Ornithologen „Pelzdunen“.
Es gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, was da gerade entsteht:
Woher weiß der Quadratmillimeter Haut, dass dieser Federkeim sich zur harten, langen Feder einer Handschwinge– die äußerste mit der Nr.10. sogar mit einer markanten Einbuchtung auf der Innenfahne – entwickeln soll und woher weiß der andere Quadratmillimeter Haut am Unterbauch, dass seine Federkeime kurze, weiche Flaumfedern herstellen soll? Nach dem zukünftigen Zweck und Ort der einzelnen Feder hat sich jetzt schon bei den Nestlingen entschieden, wie jede einzelne Feder demnächst aussehen wird. Das ist in jeder einzelnen Zelle von Anfang an “einprogrammiert”! Wenn Ende Mai die fertige Feder ausgeschoben und funktionsfähig ist, braucht dieses tote, verhornte Gebilde, das so unendlich wichtig für das zukünftige Falkenleben ist, keine Blutzufuhr mehr, keinen Sauerstoff mehr und keine Nährstoffe mehr!
Das ist für die warmblütigen Vögel von Vorteil: Der Vogelflügel ist ein schmales Knochenbündel mit wenig Fleisch dran, das von einer leichten und hoch spezialisierten Tragfläche aus toter Substanz überkleidet ist. (Deshalb haben die Altfalken, wenn sie größere Vögel als Beute mitbringen, fast ausnahmslos die Flügel bereits abgeknipst: Ist ja eh nichts dran und sie stören beim Transport!)
Fledermäuse mit durchbluteten Tragflächen müssen viel mehr Energie in ihren Flug investieren. Kein Wunder, dass Vögel uralte und sehr erfolgreiche Bewohner dieser Erde sind.
Hier einige Mauserfedern der erwachsenen Falken, die ich bei Reinigung des Nistkastens fand.

Auch ZEPHYR geht gut mit dem Nachwuchs um
Wir sehen, wie sich der Nachwuchs in diesem Jahr – noch – sehr manierlich aufführt. Der Vater reizt mit seinen Lauten das Köpfchen-Heben und das Schnabel-Öffnen an. Bald sind alle satt und legen sich nieder. Bemerkenswert auch, wie ZEPHYR dem vorderen Küken ein winziges Nahrungsteil vom Körper entfernt: In derWelt der Beutegreifer wird fast alles verzehrt.
Danke, C., A.L. und M.H.!
Sonntag, 23. April, 13.48 Uhr
Die Küken werden täglich etwa 4 bis 6 mal mit Nahrung versorgt. Bisher waren es Kleinvögel, die dafür – vor allem von ZEPHYR – erbeutet wurden. Das schnelle Wachstum des Quartetts erfordert nun auch größere Beutevögel, z.B. Tauben. Diese gibt es in großer Zahl. Das Atzen der Küken erfolgt immer in rasendem Tempo und ist für die Eltern eine anstrengende Aktion: Sie halten die Beute mit beiden Fängen fest und haben dadurch einen instabilen Stand. Das Abreißen der Federn und des Fleisches erfordert große Kraft. Blitzschnell entscheidet dann der Falke: Ist der Happen groß, verschlingt er ihn selbst, ist der Happen klein, so wird er – mit wenig Geduld – angeboten. Bald werden die Küken auch – für uns unappetitliche – Happen, also Federn, Knochen, ganze Vogelfüße annehmen und mühsam verschlingen.
Danke, S.H.!
23. April: Mittagessen
Kürzlich habe ich erwähnt, dass wir Miterlebende Atzungen/Fütterungen der Küken kaum ertragen, wenn ein Küken oder zwei deutlich jünger als die Erstgeborenen sind. Wenn das der Fall ist, dann drängen die Großen die Kleinen zu Seite. Dann kommt es vor, dass bei den vier bis fünf täglichen Atzungen die beiden kleinen Küken oder der eine kleine Zwerg – es kann auch eine Zwergin sein – bei den Fütterungen zweimal abgedrängt und hungrig zurück bleibt!
WIR sind dann betroffen: Wie kann das sein? Das ist doch ungerecht und grausam! Keine Sorge! Hier ist noch nie ein Fälkchen hungrig geblieben. Bei der nächsten Atzung sind die DRÄNGLER satt und die KLEINEN kommen dran. Wanderfalken verfügen nicht über eine Moral, Ethik, Werte, wie z.B. Fairness, Gerechtigkeit wie wir!
Sie handeln nach Reiz und darauf folgender Reaktion. Die Küken erheben bei Annäherung des Schattens ihrer Eltern und deren aufmunternden Lauten den Kopf und Gieren. Dieser Anblick zwingt geradezu die Eltern darauf zu antworten. Wir beobachten, dass LISELOTTE & ZEPHYR den ausgewählten Happen dicht vor den winzigen Schnabel des Kükens hin halten, eventuell mit dem Happen das Schnäbelchen berühren. Wenn das Küken nicht schnell zuschnappt, reichen sie es der Konkurrenz! LISELOTTE oder ZEPHYR reagieren hier auf das „Sperren“ und die optischen Signale, die Kopf und sichtbarer Rachen der Küken bei ihnen das Anbieten des Happens auslösen. Auch das lautstarke „Gieren“ befiehlt gewissermaßen den Eltern: Her mit der Nahrung!
Also nix ist mit Liebe, Fürsorge, Kuscheln, auch wenn die Kleinen – jetzt noch – für uns Menschen „so süß!“ ausschauen, dass unsereins das Herz aufgeht. Das sind unsere menschliche Kategorien, dort oben können wir natürliche Reiz-Reaktions-Abläufe staunend beobachten. Und menschliche Gefühle gönnen wir uns ganz privat.
2023 sind die vier Küken zeitlich kurz nacheinander in die Welt geschlüpft. Schon jetzt erkennen wir kaum noch, wer die Nr. 1 und wer die Nr. 4 ist. So wird es wenigStreit geben.
Danke, C.!
Donnerstag, 21. April: Abendmahlzeit
Nun verläuft hier alles so, wie wir es seit langem gewohnt sind. Ja, dieses Jahr war es besonders aufregend und interessant, nicht wahr?
Danke, K.!
Donnerstag, 20.April: 12.40 Uhr schlüpft das vierte Küken!
Auch hier sehen wir besorgt, wie das Küken sich zwar mit eigener Kraft aus der Schale gedrückt hat, dass aber LISELOTTE begierig am Kopf des Kükens die umgebende Haut abzupft und wieder mit dem Schalen-Recycling beginnt. Erfreulich, dass sie das Küken dann unter sich zum Hudern birgt.
WIR staunen, wie robust der Nachwuchs die Außenwelt und die mütterliche Behandlung verkraftet.1
Danke, S.F.!
Beim Verzehren der letzten Schokoladeneier

Wie so vieles in der Natur, nehmen auch wir Erwachsene – z.B. ein Ei – meist ohne Staunen zur Kenntnis.
Heute kommen andere Stoffe, die über die Nahrungskette in die Wanderfalken kommen, in unseren sorgenvollen Blick: Furane, Glyphosat …
Frühlingswärme spart „Heizung“
Am 5. April gab es am Vormittag auch in Heidelberg einen schnellen Temperaturanstieg. (Gegen 9 Uhr trug ich im Freien noch einen Pullover unter meinem Jacket, gegen 11 Uhr – mit einer Enkelin auf dem Spielplatz – weg mit Jacken und Pullovern!) Bald erreichten mich im Tagesablauf besorgte Anfragen: “ Das Gelege liegt heute oft unbedeckt!“
Unter dem dunklen Schieferdach der Turmspitze erwärmte sich das „Falkenzimmer“ sehr schnell in der Sonne, nachdem in den Vortagen noch ein eisiger Ostwind in den Nistkasten blies.
(Ich stand in den ersten 2000-er Jahren oft dort oben an den 1-Cent-kleinen „Spionlöchern“ um das Brutverhalten zu beobachten. Oft habe ich dann sehr gefroren, einige Wochen später lagen die Küken dann in der Hitze platt im Nistkasten. Und ich eilte hinab zu einem kalten Getränk auf dem Marktplatz.
So ist es verständlich, dass LISELOTTE & RUPERT ihr „langweiliges“ Brüten bei hohen Temperaturen unterbrechen.
Noch wissen wir nicht, ob beide Eier befruchtet wurden, wir müssen uns weiter gedulden.
Danke, M.H.!

Was geschieht nun in den beiden Eiern?
Sie wurden bisher, wie wir beobachten konnten, nahezu ununterbrochen bebrütet. Wir konnten die beiden Eier nur beim Brutwechsel kurz betrachten. LISELOTTE & RUPERT haben die Brutzeit sehr gut bewältigt. Nun sind sie im Endstadium der Brut.
In den Eiern haben sich die befruchteten Eizellen zu Embryonen verwandelt. Der Nachwuchs in den Eiern ist heute – etwa drei Wochen nach der Ablage des zweiten Ei (Brutbeginn) – inzwischen fast ausgereift und nahezu vollständig entwickelt!
Nun dreht sich der Embryo bald in die richtige Position, um die Eischale demnächst zu sprengen. Ein recht komplizierter Ablauf!

Etwa um den 26. Tag der Brutzeit, 2024 etwa am 20 April, wird der Embryo den Kopf nach rechts unten unter den rechten Flügelstummel drehen, so dass der Schnabel in Richtung der Luftkammer zeigt. (Die Luftkammer kennen wir aus dem hart gekochten Hühnerei.) Der Schnabel drückt so bereits dann gegen die Membran, die den Embryo noch von der Luftkammer trennt. So bewegt sich der Embryo allmählich in die Schlupfposition:
Der große Kopf wird am stumpfen Ende des Eies liegen und die Beine können sich in Richtung spitzes Ende strecken. (Dazu fehlt ihnen jetzt noch die Kraft.) Läge der Kopf im spitzen Ende des Eies, könnte der “Eizahn” auf dem Oberschnabel die Schale nicht am “Äquator” öffnen. In den letzten Tagen vor dem Schlupf ruht das Küken und sammelt seine Kräfte im Nackenmuskel, der die Schalenhälften beim Schlupf auseinander drücken muss. Seine Nahrung, die ihm im Dottersack mitgegeben wurde, hat der Embryo bereits nahezu aufgebraucht, der Kalk für seine zarten Knöchelchen kam aus der Eischale, die nun allmählich dünner geworden ist.
(Wir Ältere erinnern uns schaudernd an die 196o-er/1970-er Jahre, als Pestizide in der Nahrungskette der Greifvögel deren Eischalen so dünn werden ließ, dass diese unter dem Gewicht der brütenden Eltern zerbrachen.)
Der Weg von der befruchteten Eizelle zu einem Lebewesen, – hier bald zu einem winzigen weißen Piepmatz, ist für uns Miterlebende jedes Jahr ein wunderbares Erlebnis!
Heidelberg ist 2024 wieder später dran
In Europa und in Deutschland sind die ersten Küken dieser Saison in den – überwachten Horsten/Nistplätzen – geschlüpft. WIR konzentrieren uns auf die Heidelberger Wanderfalken und können nicht über andere Nistplätze berichten. Aber wir kennen unsere Legedaten und wissen, dass es hier noch etwa zwei Wochen dauern wird.
Ablösung am Vormittag
Danke, M.H.!


2023 war ein schwieriges Jahr für Wanderfalken
Es liegen mir Beobachtungen, Erfahrungen und Ergebnisse der vergangenen Brutsaison in unserem Bundesland vor, die vom Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft Wanderfalkenschutz im NABU Baden Württemberg“ zusammengetragen wurden. Sie stimmen mit den Heidelberger Erfahrungen des vergangenen Jahres weitgehend überein.
Es gab 2023 zahlreiche neue Verpaarungen und außergewöhnlich viele „immature bzw. subadulte“ – wie die Fachleute sagen – Brutpartner beider Geschlechter, also junge Wanderfalken, die eine Brut begannen.
Es gab viele späte Bruten.
Es gab viele Brutverluste, teilweise ganzer Gelege, auch in urbanen bzw. siedlungsnahen Standorten.
Eine Zunahme der verwaisten Standorte wurde festgestellt.
Viele Totfunde, davon viele mit positiven Befund auf „hochpathogene aviäre Influenza des Subtyp H5N1“ – wir Laien nennen das Vogelgrippe. Die Folge war ein Bestandseinbruch der Wanderfalken in Baden-Württemberg, der sich seit 2008 „eingependelt“ hatte. Er ist jetzt wieder auf dem Stand der frühen 1990-er Jahre.
Entsprechend war auch die Zahl der ausgeflogenen Jungfalken niedrig, etwa so wie 1989.
Beim Lesen werden viele mit dem Kopf nicken: Ja, diese Beobachtungen passen auch gut zu Heidelberg.

